#notizanmich

18 und 6 mal die 0

Wir Deutschen leben im Überfluss. Jährlich werfen wir 18 Millionen Tonnen Lebensmittel in die Mülltonne. Eine schier unbegreifliche Zahl, die uns abstrakt verdeutlicht, dass etwas gewaltig schiefläuft in unserer Gesellschaft. Ein Drittel der weltweiten Lebensmittel wird für die Mülltonne produziert.
Nehmen wir Lebensmittelverschwendung nicht ernst genug?

 

Es gibt eine Gruppe Menschen, die diesem Wahnsinn ein Ende setzen wollen – sie containern. Doch anstatt sie für Ihr Engagement zu feiern, gelten sie als Kriminelle. In Deutschland ist Containern Diebstahl. Unter Umständen kommt noch Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung hinzu. Ich begleite Sarah auf ihrem Streifzug. Eine Reportage.

3D nimation, ein Mannequin öffnet einen Container und schaut hinein
3D nimation, ein Mannequin klettert in einen Container
3D nimation, ein Mannequin steigt aus einem Container

„Wie kann diese Bewegung illegal sein? Was sagt das über unsere Gesellschaft aus?“, frage ich mich während mein Blick in die Ferne schweift. Ich sitze im Bus, bin auf dem Weg zu unserem Treffpunkt. Ich bin gespannt, was mich heute erwartet und auch etwas nervös. Sarah – Anfang 20, freche Frisur, angehende Studentin der Physik – wartet schon am Eingang des Super- marktes auf mich. Sie hat sich bereiterklärt, mich heute auf ihrem Streifzug mitzunehmen.

 

Es ist noch angenehm warm an diesem Septembertag. Wir sitzen an einem Bordstein. Sarah gewährt mir Einblick in ihre Gedanken zum Thema Lebensmittelverschwendung und Containern. Ihr damaliger Freund brachte sie zum Containern. „Ich lernte Leute kennen, die ausschließlich vom Containern und Weggeworfenem lebten, sie hinterlassen praktisch keinen Fußabdruck auf der Welt.“ So möchte sie zwar nicht leben, es imponierte ihr aber. Sie fing an, ihr eigenes Konsumverhalten zu beobachten und zu reflektieren. Die Eigenkritik wuchs.

„Gutes Essen hat einfach nichts im Müll verloren“

Steht sie wieder einmal vor einer gut gefüllten Tonne, schwankt sie zwischen Euphorie und Schrecken, bis hin zu Verachtung. Verachtung gegenüber unserer Konsum- und Wegwerfgesellschaft, aber auch sich selbst. Sie ist strikt gegen Lebensmittelverschwendung, versucht nachhaltig zu leben. „Immer schaffe ich das aber auch nicht.“, gesteht sie sich ein. Ich frage mich, ob man das überhaupt immer sein kann. Sarah versteht nicht, warum die Wegnahme weggeworfener Lebensmittel Diebstahl darstellt. Da sind wir schon Zwei. Angst davor erwischt zu werden, hat sie – im Gegensatz zu mir – keine. Wut über die deutsche Interpretation und Gesetzgebung hingegen kann sie nicht leugnen.

 

Es ist viertel vor neun als wir aufstehen und in Richtung Lagerhalle gehen. Während Sarah zielgerichtet zu den Containern geht, checke ich zunächst die Umgebung ab. “Was ist das?” schrecke ich auf. Hinter einem der großen verschlossenen Rolltore sind Geräusche, wie die eines Gabelstaplers, leise zu hören. Verunsichert frage ich Sarah, was sie davon hält: “Oh! Nein, das ist nicht normal. Wir sollten gehen!” Schnellen Schrittes verschwinden wir wo wir hergekommen sind – im Dunkeln.

Wir lassen uns vom ersten miss- glückten Versuch nicht abschrecken und pirschen uns 15 Minuten später erneut an. Dieses Mal ist es still. Ein Bewe- gungsmelder verkündet unsere Ankunft und richtet seine Scheinwerfer auf uns. Ein beklemmendes Gefühl habe ich schon. “Pass auf, hier liegen Maden”,

Ein Packung Sushi alleine in einer großen Mülltonne

 warnt mich Sarah eher flüsternd vor und reißt mich aus meiner Gefühlswelt. Ich tänzle an ihnen vorbei zur ersten Tonne. Gespannt machen wir sie auf und – tada – in einer ansonsten leeren Tonne liegt wie auf einem Präsentierteller eine Packung Sushi. “Nimm mich mit! Ich laufe erst in vier Tagen ab”, scheint sie mir entgegen zu schreien. Sarah freut sich und steckt sie ein.

Ärmel hoch, los geht`s.

Wir klettern auf eine weitere Kiste und als der Deckel aufgeht, weiß ich warum die meisten Menschen containern eklig finden. Ein fauliger, leicht süßer Gestank findet augenblicklich seinen Weg in meine Nase. Man erkennt direkt, woher er stammt: Schimmliges Obst. Sarah erzählte mir vorher, ihr Ekelempfinden sei nicht sonderlich groß. Das merke ich jetzt. Ohne zu zögern nimmt sie sich eine Packung Riegel, öffnet die verdreckte und nasse Papierverpackung und zieht fröhlich die einzeln in Plastik verpackten Riegel hervor. Begeistert von deren Unversehrtheit nehme auch ich mir einen Riegel.

 

Ehe ich mich versehe, ist auch meine Hand im Container und tastet, was sie ergattern kann. Ich dachte, es würde mich eine größere Überwindung kosten. Ekel kommt nur kurz auf, wenn meine Finger mit dem Siff in Berührung kommen – was allerdings häufig der Fall ist. Ich hatte es mir widerlicher vorgestellt. Auf einmal erstarren wir beide in unseren Bewegungen: unerwarteter Besuch. Vor uns taucht aus dem Nichts ein Fahrradfahrer auf und bewegt sich zielgerichtet auf uns zu. Mein Herz in der Hose gucke ich Sarah hilfesuchend an. Ihr Gesichtsausdruck verrät nichts Gutes. „Das war’s!“, bricht es aus ihr heraus.

Einen großen Becher Joghurt beim Containern vor einer vollen Mülltonne
Eine Mülltonne bis oben hin voll mit Lebensmitteln - containern

Wurden wir erwischt?

Der Fremde steigt von seinem Rad, setzt seine Kapuze auf. Alles wirkt wie in Zeit- lupe. „Und, ist heute was Gutes dabei?“ Sarah erzählt offensichtlich erleichtert vom heutigen Fund. Ich hingegen bin noch nicht überzeugt und beobachte den Mann argwöhnisch. Er merkt wohl, dass ich neu in der Szene bin. Er blickt mich ernst an und sagt leise „Schau mal rechts hinter mich.“ Das muss er sein, der Moment, an dem er mir eröffnet, dass ich auf frischer Tat ertappt wurde. „Da ist eine Kamera.“, scheint er meine Gedanken zu bestätigen. Doch der Krimi schien lediglich in meinem Kopf zu existieren. Der Fremde möchte mich tatsächlich nur warnen.

Eine randvolle Mülltonne voll frischem bunten BIO Gemüse

Der Fremde steigt von seinem Rad, setzt seine Kapuze auf. Alles wirkt wie in Zeitlupe. „Und, ist heute was Gutes dabei?“ Sarah erzählt offensichtlich erleichtert vom heutigen Fund. Ich hingegen bin noch nicht überzeugt und beobachte den Mann arg- wöhnisch. Er merkt wohl, dass ich

neu in der Szene bin. Er blickt mich ernst an und sagt leise „Schau mal rechts hinter mich.“ Das muss er sein, der Moment, an dem er mir eröffnet, dass ich auf frischer Tat ertappt wurde. „Da ist eine Kamera.“, scheint er meine Gedanken zu bestätigen. Doch der Krimi schien lediglich in meinem Kopf zu existieren. Der Fremde möchte mich tatsächlich nur warnen.

Gemeinsam inspizieren wir die restlichen Tonnen. Bis zum Schluss bin ich irritiert von diesem Mann. Ich kann mich gar nicht auf die vielen Lebensmittel kon- zentrieren, die quasi für uns bereit zu liegen scheinen. Eine Tonne ist voll frischem (BIO-)Gemüse und Obst: leuchtend grüner Schnittlauch, sonnengelbe Zucchini, verpackte Äpfel und Salate. Wir könnten sicher ein schmackhaftes 3-Gänge-Menü kochen und zum Nachtisch einen Schoko-Muffins kredenzen. Was ein Fest.

 

Noch bevor meine Eindrücke das Gehirn erreichen, verabschiedet sich der mysteriöse Fremde von uns und wir gehen aus der rechtlichen Grauzone in die Legalität zurück. „Willst du einen Schokokeks?“ fragt Sarah freundlich und hält mir die containerte Kekstüte entgegen. „Sie sind seit Mai abgelaufen.“ Der Keks schmeckt zwar etwas alt, aber das schmeckt der im Schrank meiner Oma auch.

Sarah begleitet mich zu meinem Bus. „Die heutige Beute war eher mau.“, sagt sie etwas enttäuscht. „Es gibt Container-Cracks, die genau wissen, wann und wo die Tonnen geleert werden. Die kommen mit Palletten bester Lebensmittel nach Hause.“ Ihr tollster Fund war eine große Tonne randvoll mit Lindt-Osterhasen.

Ein einwandfreier Riegel aus der Mülltonne beim Containern

„Verdammt, warum war ich nicht dabei?“, witzele ich, meine es aber durchaus ernst.

„Meine Privilegien, meine Verantwortung.“

Als ich im Bus sitze reguliert sich mein Adrenalinspiegel, die vielen Eindrücke sacken. Ich beginne zu begreifen. Was ist das für eine absurde Welt, in der Menschen verhungern – immer noch – und wir Lebensmittel in den Müll schmeißen, weil eine Zahl es sagt oder die Optik nicht einem „Ideal“ entspricht? Und wie völlig absurd ist es, dass Menschen kriminalisiert werden, weil sie dagegen protestieren, weil sie kein Teil dieser Verschwendung sein möchten?

 

Als ich zu Hause ankomme, schüttele ich den Kopf, noch immer ungläubig: „Ich lebe in einem privilegierten Land. Bedeutet: Meine Privilegien, meine Verantwortung.“ denke ich und öffne die Tür zu meinem Kühlschrank …

Jetzt seid ihr gefragt

Wie ist eure Einstellung zur Lebensmittelverschwendung? Was haltet ihr vom Containern? Sollte es legal werden? Containiert ihr selbst? Würdet ihr es gerne ausprobieren? Oder sagt ihr „auf keinen Fall!“?

Lasst mir gerne euren Kommentar da. Ich bin gespannt, was ihr dazu sagt!

Hier findest du hilfreiche Materialien zur Prävention von Lebensmittelverschwendung.
Bereitgestellt von der Welthungerhilfe:

So lagerst du deine Lebensmittel in deinem Kühlschrank richtig.
Diese Lebensmittel sind in der jeweiligen Saison üblich und erhältlich.
Ein Vordruck, um deinen Wochenspeiseplan vorzuplanen.

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